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Montag, 23.03.2020 08:12 - Alter: 4 Jahre

Corona und die Wissenschaft: Das Problem der Nicht-Repräsentativität der bestätigten Infektionen

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IJK möchte in den kommenden Wochen gerne ein paar Überlegungen veröffentlichen, die die aktuellen Entwicklungen der Covid-19-Pandemie in Verbindung bringen mit einigen jener Themen, die dem IJK in den Lehrkonzepten der Studiengänge besonders wichtig sind.

Der erste Beitrag stammt von Prof. Dr. Christoph Klimmt und lautet:

Das Problem der Nicht-Repräsentativität der bestätigten Infektionen

Anhand welcher Daten wir gerade versuchen, das Ausmaß, die Dynamik und die Interventionsstrategien zu verstehen und zu diskutieren, lässt sich sehr gut veranschaulichen, warum die Grundsätze, die wir am IJK in der sozialwissenschaftlichen Methodenausbildung immer wieder betonen, so ungemein wichtig sind. 

Seitdem das Virus in Deutschland erstmals nachgewiesen wurde, dokumentiert das Robert-Koch-Institut täglich die Anzahl positiver Testbefunde. Diese Zahlen kennen wir alle, werden sie doch von vielen Nachrichtenmedien kontinuierlich berichtet. Die WHO trägt die Zahlen positiv getesteter Menschen weltweit in ihrem „Dashboard“ zusammen. In den Medien lautet die typische Formulierung dazu „Corona breitet sich weiter aus – nunmehr XX Tausend Infizierte“. Diese Zahl ist die einzige genaue empirische Information, die aktuell vorliegt. Deshalb wird sie auch so gerne in den Medien transportiert. Bedauerlicherweise ist sie ein erbärmlich schlechter Indikator dafür, wie sich die Infektions-Situation (nicht nur) hierzulande eigentlich darstellt.

Denn diese Informationen basieren nicht auf bevölkerungsrepräsentativen Stichproben! Tests auf Corona stehen nur in begrenzter Menge zur Verfügung, und bis heute scheint keine medizinische Institution der Welt es geschafft zu haben, einmalig (oder besser noch: täglich) Repräsentativstichproben der Gesamtbevölkerung auf SARS-COV-2 zu testen. Warum ist das so entscheidend? Die derzeitige Praxis der Testanwendung sieht offenbar so aus (genau wissen wir das nicht, zumindest ich nicht), dass vor allem Verdachtsfälle getestet werden, also Personen mit Symptomen und/oder vermutetem Kontakt mit einer infizierten oder infektionsverdächtigen Person (z. B. Heimkehrer aus Ischgl). Diese Personengruppe ist sozusagen eine anfallende oder ad-hoc-Stichprobe, jedenfalls keine, in der alle Elemente der Grundgesamtheit (der deutschen Bevölkerung) die gleiche Chance hatten, repräsentiert zu sein. Es ist auch keine quotierte Stichprobe, die im günstigen Fall ebenfalls eine Inferenz auf die Gesamtbevölkerung zuließe. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Tests überhaupt durchgeführt werden (und ergo wie viele positive und wie viele negative Testergebnisse es gibt), aber im Zentrum des Problems steht die mangelnde Repräsentativität der Stichprobe der Getesteten. Ohne diese Repräsentativität können wir nämlich nicht valide abschätzen,

  • wie groß der Bevölkerungsanteil ist, der das Virus in sich trägt,
  • wie groß der Anteil der Infizierten ist, der Symptome entwickelt,
  • wie viele weitere Personen eine infizierte Person ohne eigene Symptom-Entwicklung im Durchschnitt ansteckt, -- wie viele weitere Personen eine infizierte Person mit Symptomen ansteckt,
  • wie hoch die tatsächliche Mortalitätsrate (Anteil der an SARS-Cov-2 versterbenden Menschen an allen Infizierten und an der Gesamtbevölkerung) ausfällt.

Alle diese Informationen sind jedoch zentral, um die tatsächliche Bedrohung durch SARS-Cov-2 wissenschaftlich seriös zu beziffern. Mit Hilfe von täglich gezogenen Repräsentativstichproben (zum Beispiel 1000 zufällig ausgewählte Menschen) ließe sich die Ausbreitung und das Potenzial von SARS-Cov-2, Symptome (bis hin zum Beatmungsbedarf) zu erzeugen, präzise beobachten und verfolgen. Und mit solchen Daten wären wir in der Lage, die Gegenmaßnahmen systematisch zu planen. Wir könnten auch viel besser prognostizieren, ob und wann der gefürchtete Überlastungspunkt für die Intensivstationen erreicht werden wird. Wir könnten bei ausreichend großen Stichproben auch Risikogruppen und -faktoren viel genauer charakterisieren.

Die Informationen, die wir derzeit haben, sind also nicht in der Lage, das Infektionsgeschehen akkurat zu beschreiben. Daher wird gerne nach der Nennung der Zahl positiver Tests von der hohen „Dunkelziffer“ gesprochen. Die müsste es, würde man das, was wir am IJK in „Befragung“ lehren und in „Statistik und Datenanalyse 2“ wieder aufgreifen, gar nicht geben – Repräsentativstichproben sind kein Hexenwerk. Sie werden in der empirischen Sozialforschung – übrigens auch in der Epidemiologie – ständig hergestellt und analysiert. Es ist dringend an der Zeit, dass wir dieses bisherige Versäumnis in der Beobachtung von SARS-Cov-2 abstellen.

Gleichwohl ist mit Blick auf die Strategien des Infektionsschutzes zu bedenken, dass wir auch bei einem wissenschaftlich besser abgesicherten Lagebild zur Ausbreitung und zur pathogenen Wirksamkeit von SARS-Cov-2 kaum Alternativen zum jetzigen Lockdown-Ansatz haben würden. Jedoch würden valide Daten aus Repräsentativstichproben es ermöglichen, genauer zu begründen, wie lange die weitreichenden derzeitigen (und noch anstehenden) Maßnahmen gelten müssen. So hoffen wir, dass sich die Datenlage bald entscheidend verbessert. Was den Infektionsschutz angeht, so sollten wir vor allem hoffen, dass wir den Einbruch des Virus in Alten- und Pflegeheime weitgehend verhindern können. Denn diesen einen Faktor können wir bereits aus den verfügbaren Daten ablesen: Italien, Spanien und Würzburg zeigen sehr deutlich, dass das Vordringen des Virus in Pflegeeinrichtungen sofort zu sprunghaften Anstiegen in den infektionsbedingten Todesfällen führt.

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